ISAF
Nach dem Abzug der russischen Invasoren in 1996 wurden die geschätzt 30 Millionen Einwohner des Landes von den Taliban regiert. Die „Islamische Talibanbewegung Afghanistans“ zeigte sich als brutal agierende Miliz-Regierung, die den Koran dogmatisch und extremistisch auslegte. Unter dem Deckmantel des Islam – konkret: der als Scharia manifestierten Regeln – wurden unter anderem die Lebensbedingungen der Frauen radikal verschärft dazu gehören beispielsweise Verschleierungspflicht für Frauen außerhalb des eigenen Hauses, kein Schulrecht für Mädchen etc. Die Taliban-Regierung wurde diplomatisch nur von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten anerkannt. Afghanistan ist mit einer Fläche von rund 650 000 km² sehr weitläufig und als Bergland mit rauem Klima in vielen Gegenden extrem schwer zugänglich – ein Umstand, der dezentrale Machtverteilungen bei fehlenden politischen und administrativen Strukturen fördert. In abgelegenen Gebieten lag die militärische und zivile Kontrolle der Bevölkerung bei willkürlich (selbst) ernannten und eigenmächtig über ein begrenztes Territorium agierenden Personen – den Warlords. Afghanische Warlords vertreten bis heute unterschiedliche Ziele und politische Weltanschauungen, haben keine einheitlichen Standpunkte zum Thema „gelebter Islam“ und gehören teilweise zur Gruppe der Taliban.
NATO-Kampftruppen für Afghanistan
Nach den Anschlägen vom 11. September in New York vermutete die internationale Gemeinschaft, dass sich Osama Bin Laden, der damalige Anführer des Terror-Netzwerks Al-Kaida, mit seiner Familie und seinen engsten Vertrauten unter dem Schutz der Taliban-Regierung in Afghanistan aufhält. Als Maßnahme im Kampf gegen den globalen Terrorismus wurde die ISAF (International Security Assistance Force) im Dezember 2001 gegründet und nach Afghanistan entsendet mit dem primären Ziel, die führenden Mitglieder von Al-Kaida aufzufinden. Seit 2001 hat es eine Vielzahl von Missionen gegeben. Ursprünglich beschränkte sich der ISAF-Einsatz auf die Gewährleistung der Sicherheit in der Hauptstadt Kabul, ab Herbst 2003 erweiterte die NATO den Einsatz der ISAF-Truppen auf das ganze Land. Im Gegensatz zu den als friedenssichernd charakterisierten Einsätzen von UNO-Blauhelm-Truppen werden die Missionen der ISAF explizit als friedenserzwingende Einsätze ausgewiesen.Grob lassen sich fünf Zielsetzungen für den Einsatz der ISAF-Truppen in Afghanistan zwischen 2001 – 2015 benennen:
– Bekämpfung des globalen Terrorismus
– Bekämpfung der globalen Kriminalität – vorrangig: Opium-Handel
– Herstellung von Sicherheit und Stabilität im Lande
– humanitäre Hilfe beim Wiederaufbau zerstörter Einrichtungen
– Stabilisierung und Absicherung der geschaffenen Verhältnisse
Die Missionen der ISAF werden vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für einen bestimmten Zeitraum mandatiert – in der Regel ein Jahr – und deren Teilziele per UN-Resolutionen fixiert. Die 28 NATO-Mitgliedstaaten, unter anderem USA, Deutschland, Belgien, Australien und die Türkei, stellen ein unterschiedlich starkes Kontingent an Soldaten und militärischem Equipment und wechseln sich bei der strategischen Truppenführung ab.
Einsatz erfolgreich – eine Frage des Standpunktes
In 2012 sind nach Angaben der NATO insgesamt mehr als 100.000 ISAF-Kräfte im Einsatz. Unter Soldaten und Zivilisten hat es seit Beginn des ISAF-Einsatzes in 2001 eine extrem hohe Anzahl von Opfern gegeben – seelische und körperliche, irreversible Verletzungen sowie Todesfälle. Vor diesem Hintergrund und in Abhängigkeit davon, ob ein offizieller ISAF-Sprecher, ein Soldat an der Basis oder ein federführender Politiker zum Erfolg der ISAF befragt wird, werden die Antworten sehr unterschiedlich ausfallen. Auch ein Bewohner der Hauptstadt wird den Erfolg der ISAF anders bewerten als der Einwohner eines Bergdorfes. Einige allgemeine Aussagen in Hinblick auf den die Erfüllung der unterschiedlichen Zielsetzungen der ISAF-Missionen sind indes möglich: Die Taliban-Regierung konnte verdrängt werden – seit 2004 heißt das Land Islamische Republik Afghanistan und wird als Präsidialsystem regiert. Osama Bin Laden wurde im Frühjahr 2011 in Pakistan bei einem Sondereinsatz von Navy Seals getötet – das Al-Kaida-Netzwerk besteht jedoch weiterhin mit weltweit dezentralisierten Hierarchien. Nicht alle Opium-Anbaugebiete in Afghanistan konnten zerstört werden, so dass der Drogenhandel bisher nicht nachhaltig gestoppt ist. In Kabul gilt die Sicherheitslage als „stabil schlecht“ – noch immer erreichen Meldungen von Anschlägen auf Gebäude und Menschen die internationale Tagespresse.
Das Auswärtige Amt gibt weiterhin Reisewarnungen für alle Teile des Landes aus. Trotzdem ist in Kabul und Umgebung als Folge des Wiederaufbaus von öffentlichen Gebäuden ein Stück Alltagsnormalität eingekehrt: So besuchen Mädchen und Jungen die Schulen. Aufgrund von weiterhin verschärfter Gefahrenlage für die ISAF-Kräfte, harten klimatischen Bedingungen und der schlechten Zugänglichkeit von weiten Teilen des Landes schreitet der Wiederaufbau im Landesinneren erheblich langsamer voran als in der Hauptstadt. Geplant ist, dass die ISAF-Truppen länderweise bis Ende 2014 Afghanistan verlassen und das Land zuvor Stück für Stück in die Eigenverantwortung der afghanischen Regierung übergeben – geplant ist eine Anschlussmission zur Stabilisierung und Unterstützung des Landes.
Anschlussmission ab 2015?
Auf dem Chicago-Gipfeltreffen Im Mai 2012 formulierten die Verteidigungsminister der 28 Nato-Mitgliedsstaaten die Marschrichtung für das zukünftige Engagement in Afghanistan: Nach dem planmäßigen Ende des ISAF-Einsatzes Ende 2014 will die Nato nach dem 31. Dezember 2014 mit einem neuen Einsatz für eine nachhaltige Stabilisierung Afghanistans sorgen. Dabei soll es sich nicht um einen Kampfeinsatz handeln, sondern um eine auf die Ausbildung und Beratung von afghanischen Soldaten ausgerichtete Maßnahme. Die Verteidigungsminister der truppenstellenden Länder haben ihre Militärs beauftragt, ein entsprechendes Mandat für eine internationale Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission zu entwerfen.
Das veränderte Aufgabengebiet mit einem stark reduzierten Kontingent an Soldaten wird nach außen mit einem neuen Namen fokussiert: Aus der ISAF – International Security Assistance Force wird die ITAM – International Training, Advisory and Assistance Mission. Stellvertretend für die Sichtweise von politischen Entscheidungsträgern stehen folgende Aussagen deutscher Politiker: Verteidigungsminister Dr. Thomas de Maizière (CDU) betont, dass es sich bei dem Einsatz ab 2015 nicht um ein Anschlussmandat handelt, sondern um ein neues Mandat mit einer neuen Qualität. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) weist darauf hin, dass das deutsche Engagement mit dem neuen Einsatz ein ziviles Gesicht bekommen wird. Kritisch indes äußert sich unter anderen der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke (Die Linke) mit der Aussage, dass sich sowohl die Nato als auch die Bundesregierung mit der neuen Mission die Kriegsoption offenhalten. Kritik übt auch Omid Nouripour in seiner Funktion als verteidigungspolitischer Sprecher der Grünen: Er bemängelt, dass die Bundesregierung bisher kein konkretes Konzept für die Zeit ab 2014 vorgelegt hat.
Wie das zivile Leben der Bevölkerung im Jahre 2015 aussehen wird, lässt sich vom aktuellen IST-Zustand ableiten. Es wird davon ausgegangen, dass das Kontingent der afghanischen Sicherheitskräfte in Hinblick auf deren Stärke und Ausbildungsstand allein zum Schutz der in Ausbildung und Beratung tätigen Soldaten nicht ausreichen wird. Deshalb werden Kampftruppen im Lande verbleiben ebenso wie ein Arsenal an Tornados, welche als Jagdbomber, Abfangjäger oder Aufklärungsflugzeuge eingesetzt werden können sowie Hubschrauber und unbemannte Flugkörper – den Drohnen. Wie schmal der Grat zwischen Selbstschutz und Angriff in der Praxis werden kann, ist aus den weltweiten Einsätzen der UNO-Blauhelme bekannt.
Ob Besatzer, Befreier oder Helfer – Fremdeinmischung bleibt nach 2014 erhalten
Schätzungsweise werden ab 2015 rund 35 000 – 40 000 Soldaten unter der ITAM-Flagge in Afghanistan stationiert (bleiben) – dies entspricht circa einem Drittel des gesamten in 2012 eingesetzten ISAF-Kontingents. Aus Sicht der afghanischen Regierung ist dies zumindest in Hinblick auf den Auf- und Ausbau von zeitgemäß ausgebildeten Sicherheitstruppen gewünscht. Kooperationen, die auf freiem Willen beruhen: Ist die neue Mission der NATO-Kräfte geeignet, Afghanistan auf lange Sicht für eine wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit mit einem oder mehreren der NATO-Mitgliedsstaaten vorzubereiten? Dies hängt vor allem davon ab, ob individuelle ITAM-Kräfte in der afghanischen Bevölkerung als Besatzer, Befreier oder Helfer wahrgenommen werden.