Globalisierung in Polen

Polen ist ein Land, dessen Geschichte von Widerstand, Unterdrückung und Teilungen geprägt ist. Durch seine zentrale Lage im Herzen Europas wurde es immer wieder zum Spielball konkurrierender Mächte, vor allem zwischen Russland, Preußen und Österreich. Von 1795 bis 1918 war Polen als eigener Staat sogar vollkommen von der europäischen Landkarte verschwunden. Im Dritten Reich war Polen das Land, das am stärksten unter der nationalsozialistischen Besatzung zu leiden hatte. Durch alle diese Jahrhunderte, durch Wirren und Zerstörung hat das Land sich immer eine unverwechselbare, nationale Eigenständigkeit bewahrt. Trotzdem – oder vielleicht gerade weil – das Land von den unterschiedlichsten Mächten, Kulturen und Religionen beeinflusst wurde, hat das polnische Volk nie seinen Zusammenhalt und seine selbstbewusste Identität verloren. Ein Grund dafür ist sicher der Katholizismus, der vom Mittelalter bis heute im Land tief verwurzelt ist, und dem die Polen eine ganz eigene Prägung gegeben haben. Die streikenden Arbeiter auf den Werften in Danzig, Marienbildchen und Papstverehrung, Wodka und tiefe Frömmigkeit – all das ist in Polen kein Widerspruch. Ähnlichkeiten mit den Bewohnern der am westlichen Rand Europas gelegenen Republik Irland sind hier unverkennbar. Heute leben in Polen (Stand: 2012) rund 39 Millionen Menschen. Die Bevölkerungsstruktur ist so homogen wie in kaum einem zweiten europäischen Land. Fünfundneunzig Prozent der Einwohner sind Polen, die restlichen fünf Prozent bilden kleine Minderheiten: Deutsche, Weißrussen, Ukrainer, polnische Armenier, Kaschuben oder die so genannten Schlesier. Vietnamesen und Griechen sind die größten Gruppen der ausländischen Staatsangehörigen.

Polen im Zeichen der Globalisierung

Auch in einer globalisierten Welt hat Polen, vielleicht mehr als andere europäische Länder, seine nationalen Eigenheiten bewahrt und einen spezifisch polnischen Weg in das neue Jahrtausend gefunden. Während viele Länder Europas im Windschatten der Globalisierung dümpeln und sich in einer wirtschaftlichen Talsohle befinden, hat Polen zwar gesamtwirtschaftlich immer noch Nachholbedarf, hat aber in den vergangenen Jahren eine rasante wirtschaftliche Entwicklung genommen. Das Land befindet sich – inmitten krisengebeutelter Nachbarn – weiterhin auf Wachstumskurs. Den Wirtschaftsaufschwung verdankt Polen vor allem einer starken Binnenwirtschaft, die es weniger anfällig für globale Krisen macht.

EU-Beitritt

Mit dem Beitritt zur EU im Jahr 2004 hat das Land sich einen grundständigen Modernisierungskurs verordnet. Die durch die EU ins Land geströmten Milliarden wurden zielgerichtet investiert, insbesondere auch in die strukturschwachen Gebiete. Im Jahr 2012 war Polen – zusammen mit der Ukraine – Austragungsland für die Fußball-Europameisterschaft und hat dadurch einen zusätzlichen wirtschaftlichen Schub erhalten. Überall im Land entstanden moderne Fußball-Arenen, die Verkehrsinfrastruktur wurde – ebenfalls mit Hilfe von EU-Fördermitteln – verbessert, Straßen wurden ausgebaut, Bahnhöfe renoviert und Flughäfen und Hotels aus dem Boden gestampft. Der ohnehin notwendige infrastrukturelle Ausbau wurde durch die Europameisterschaft beschleunigt. Ausländische Investoren wurden angelockt, wobei sicher auch eine nicht unerhebliche Rolle spielt, dass in Polen Arbeitskräfte nach wie vor billig sind. Ob und wie nachhaltig die EM dazu beigetragen hat, die Attraktivität Polens als Reiseland zu stärken, kann derzeit noch nicht seriös beantwortet werden. Die prognostizierten Steigerungsraten des Bruttoinlandsprodukts in Polen liegen – so viel ist sicher – bei 4 Prozent und sind (Stand: 2012) damit drei Mal so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Der wirtschaftliche Impact der Europameisterschaft ist ein Beispiel dafür, wie wichtig es gerade im Zeitalter der Globalisierung ist, sich strategisch weitschauend zu positionieren und zum richtigen Zeitpunkt die Weichen zu stellen. Mut, Entschlossenheit und gute Verbindungen sind wichtige Voraussetzungen, um einen Platz an den Fleischtöpfen der Globalisierung zu erobern. Aufs Ganze sieht es in Polen so aus, als ob die sprichwörtliche „polnische Wirtschaft“, die viele Jahre als Inbegriff für Misswirtschaft stand, sich in ihr Gegenteil verkehrt hat.

Kein Wohl, ohne Weh – auch dies ist ein Kennzeichen der Globalisierung, das sich in der Entwicklung Polens widerspiegelt. Trotz zielgerichtet investierter EU-Milliarden und Fußballeuropameisterschaft konnte nicht verhindert werden, dass die Schere zwischen dem strukturstarken „Polska A“ und dem eher ländlich geprägten Regionen von „Polska B“ immer weiter auseinanderklafft. Wie in den meisten anderen Ländern der Welt trägt die Globalisierung dazu bei, wirtschaftliche Gräben zwischen den Ländern, aber auch innerhalb von Ländern zu vertiefen.

Polnischer Pragmatismus

Die Polen gelten – auch hier sind sie den Iren sehr ähnlich – als Weltmeister der Improvisation. Wichtig ist, dass etwas funktioniert und im Zweifel kommt es nicht darauf an, dass alle Vorschriften beachtet und immer nur vorgezeichnete Wege bestritten werden. Das gilt auch für den Weg vieler Polen nach Westen. Denn trotz der boomenden Wirtschaft suchen viele polnische Menschen noch immer ihr Glück im westlichen Ausland, vor allem in Deutschland. Ein möglicher Arbeitskräftemangel im eigenen Land wird dadurch kompensiert, dass gleichzeitig Arbeitskräfte aus der Ukraine nach Polen strömen. Die Menschen ziehen mit der Arbeit und je westlicher desto vielversprechender scheinen die Aussichten auf Glück und Wohlstand. So gesehen ist Polen im Zeitalter der Globalisierung zugleich Aus- und Einwanderungsland. Polnische Schwarzarbeiter werden im „Bus-Shuttle“ täglich von Warschau nach Berlin gebracht, ohne polnische Altenpflegerinnen und Krankenschwestern stünden das Gesundheitswesen und die Altersheime in Deutschland vor dem Zusammenbruch.

Aus der Ukraine kommen Schwarzarbeiter als Ersatz nach Polen – Maurer, Erntehelfer, Altenpfleger. Obwohl diese Arbeitsmigranten viele Nachteile in Kauf nehmen müssen, scheinen für sie die Vorteile zu überwiegen, vor allem finanziell. Der polnische Busfahrer, der täglich Warschau-Berlin-Warschau fährt und die illegale Putzfrau, die zu seinen Passagieren zählt, verdienen trotz Niedriglöhnen in Deutschland nicht selten mehr als ein Lehrer in Polen. Nicht nur kleine und mittelständische Unternehmen setzen auf diese Arbeitskräfte, sondern zunehmen auch Privatleute. Zu den bereits erwähnten Pflegerinnen kommen immer mehr Handwerker, die Reparatur- und Pflegearbeiten in Haus und Garten ausführen, Garagen und ganze Häuser hochziehen. Im grenznahen Bereich an der Oder haben polnische Händler und Läden auch einen Teil der Versorgung der deutschen Bevölkerung übernommen. Für Studenten der Universität in Frankfurt an der Oder ist der samstägliche Weg in polnische Bars und Kneipen eine Selbstverständlichkeit und nicht nur Touristen decken sich mit billigen polnischen Zigaretten ein.

Die andere Seite der Medaille

Auch der „Gesundheitstourismus“ von Deutschland in Richtung Polen steigt kontinuierlich an. Immer mehr Arztleistungen müssen selbst übernommen werden. Um den hohen Zahnarztkosten zu entgehen, weichen viele Deutsche zu den polnischen Nachbarn aus, wo hochqualifizierte Fachkräfte dieselben Leistungen wesentlich billiger und oftmals auch schneller anbieten. Zunehmend beliebt sind auch Schlankheits- und Wellnessangebote – hier locken günstige Preise und der angejahrte Charme der polnischen Ostseebäder. Inzwischen scheint es sogar eine steigende Tendenz zu geben, Teile der Altenpflege aus Deutschland nach Polen und in die Ukraine zu verlagern. Die Menschen werden immer älter, Plätze in Alters- und Pflegeheimen sind teuer, viele Menschen in Deutschland wollen sich nicht mehr mit der Pflege von alten und kranken Menschen belasten. Der Weg ins Nachbarland wird hier zur kostengünstigen und einfachen, wenn auch nicht unbedingt menschenfreundlichen Lösung. Eine der wichtigsten Aufgaben der Globalisierung wird darin bestehen, insbesondere auch die humanen Herausforderungen zu bewältigen.

Zukunftsausblick

Was die Polen durch all die Jahrhunderte ausgezeichnet hat, ist ein gutes Rüstzeug auch im Zeitalter der Globalisierung. Förderliche Rahmenbedingungen, aber auch Aufbruchsstimmung, Optimismus, Improvisationstalent sind mitbestimmend für das positive wirtschaftliche Klima im Land. Trotzdem kann der Aufschwung nicht über die sozialen Probleme und Verwerfungen hinwegtäuschen. Die Lage der ukrainischen Arbeiter im Osten des Landes ist stellenweise dramatisch, der Umgang mit illegalen Arbeitskräften mitunter kriminell und häufig unmenschlich. Gerüchte besagen, dass es in Warschau bereits vorkommt, dass illegale Arbeiter an organisierte Banden für „Stehplätze“ zahlen müssen, wenn sie sich für einen Job anstellen. Die Tagelöhnerei schien im Westen überwunden, jetzt gehört sie zu den Folgekosten der Globalisierung.

Derzeit ist nicht abzuschätzen, wie robust und nachhaltig der Wirtschaftsaufschwung in Polen tatsächlich sein wird. Auch in anderen – heute krisengeschüttelten – Ländern Europas war der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Beitritt zur EU nicht von Dauer. Wann Polen zur Währungsunion beitreten wird, ist derzeit noch offen. Die zunächst für 2012, dann für das Jahr 2013 geplante Einführung des Euro ist derzeit auf unbestimmte Zeit verschoben. In Umfragen hat sich auch die polnische Bevölkerung für eine Beibehaltung des Zloty ausgesprochen. Ein Indiz dafür, dass die Polen sehr genau wissen, wie wichtig es gerade in schwierigen Zeiten sein kann, sich ein Stück Unabhängigkeit zu bewahren und auf die eigenen Kräfte zu bauen.

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